"Kraft" im Yiquan

 

Li oder Jin - oder was denn nun?

Li = Kraft
Jin = Kraft

Für Kampfkunst braucht man "Kraft". Doch welche Art oder Qualität von Kraft? In den chinesischen Kampfkünsten haben sich hauptsächlich zwei Begriffe für Kraft durchgesetzt: Li und Jin. Wobei "Jin" als Begriff hauptsächlich in den sogenannten inneren Kampfkünsten (Neijiaquan) benutzt wird und dort meist sogar gegen Li abgegrenzt wird.

Li wird dann häufig zum Beispiel als "grobe Muskelkraft" bezeichnet. Im Gegensatz dazu sei "Jin" eine innere Kraft, die mehr von "Qi" geführt wird. Manche bezeichnen Jin auch als Kraft der Sehnen/des Bindgewebes o.ä. Das führt dann dazu, dass z.B. in manchen Richtungen des Taijiquan jeglicher noch so minimale Muskeleinsatz tabuisiert wird. Aus Sicht des Yiquan ist es ebenfalls anzustreben, so wenig Muskelkraft wie möglich zu benutzen, aber ganz ohne Muskeln geht es auch nicht!

Im Yiquan werden nun beide Begriffe Jin und Li praktisch gleichwertig benutzt - mal wird von Jin oder mal auch von Li gesprochen - gemeint ist aber immer das gleiche. Die Yiquan-Theorie sieht keinen wesentlichen Unterschied zwischen Jin und Li! Der wesentliche Punkt ist aus dieser Sicht viel mehr, dass die "Kraft" an sich immer feiner, subtiler und gleichzeitig "überwältigender" werden soll - egal ob das nun Jin oder Li genannt wird. Diese Art von "trainierter Kraft" wird dann im Yiquan "Hunyuan Li" genannt. (mehr dazu s.u.)

Wesentlich erscheint mir auch der Ansatz, dass die Kraft durch "Yi" = Vorstellungsarbeit erworben wird. Zitat von Wang Xianzhai: "Die Kraft kommt nicht von der Kraft. Die Kraft kommt vom Yi!" Deswegen wird beim Yiquan so viel Wert gelegt auf das Training mit der Vorstellungskraft.

Weitere Überlegungen, wie "Kraft" zustande kommt beziehungsweise trainiert werden kann hier:

 

Yiquan verstehen

Bindegewebe, Faszien, Sehnen, Bänder...

 

 

Nachfolgend ein paar Begriffe aus dem Yiquan-System, die sich auf "Kraft" beziehen:

 

Moli  (manchmal auch Mojin genannt) - "Kraft berühren"

Mo = berühren, suchen, finden, wahrnehmen, spüren, fühlen...
Li = Kraft

Moli wird im Zhan Zhuang geübt, und zwar vor allem im Jiji Zhuang. Dabei geht es hauptsächlich darum, die verschiedenen Kraftrichtungen zu spüren, zu erkunden und mit "Leben" zu füllen, so dass ein Gefühl für die Kraft entsteht. Denn die Kraft kann nicht "gesehen werden" sondern nur gespürt werden. Moli zielt darauf ab, Hunyuan Li zu entwickeln. (s.u.) Im erweiterten Sinne bedeutet Moli, auch die Kraft des Anderen zu spüren.

 

Shili - "Kraft kosten/genießen"

Shi = kosten, testen, genießen, probieren...
Li = Kraft

Unter Shili fallen auch die Mocabu-Übungen. Shili ist im Grunde nur die räumliche Erweiterung von Zhan Zhuang. Beim Shili wird die Kraft, die durch Zhan Zhuang aufgebaut wird, noch weiter "getestet" und in auch wieder äußerlich sichtbare Bewegungen im Raum übertragen. Dabei geht es darum, in Bewegung die Vorstellungen und das Gefühl beizubehalten so dass die Kraft nicht "abreisst" in der Bewegung.

Zhan Zhuang und Shili/Mocabu sind praktisch das gleiche - bringt man Zhan Zhuang-Positionen in Bewegung wird daraus Shili/Mocabu - hält man Shili/Mocabu an, wird daraus eine Zhan Zhuang-Übung. Beide Bereiche sind wichtig und gehören untrennbar zusammen. Bewegung in der Nicht-Bewegung zu suchen = Mojin im Zhan Zhuang - sowie auch die Nicht-Bewegung in der Bewegung zu suchen = die Prinzipien des Zhan Zhuang in Shili und Mocabu zu übertragen.

 

Fali - "Kraft explodieren"  (im Taijiquan meist "Fajin" genannt")

Fa = aussenden, ausstoßen, "explodieren"
Li = Kraft

Beim Fali geht es darum, die Kraft in alle Richtungen explosionsartig zum Ausdruck bzw. zur Anwendung zu bringen. Für Fali braucht man eine gute Basis im Zhan Zhuang, Shili und Mocabu, denn: was will explodieren lassen, wenn man noch gar kein bisschen "Kraft" hat? Weitere Basis für Fali ist "Xuli" und "Zhengli". (s.u.) Außerdem Entspannung, so dass Fali "punktgenau" ausgestoßen wird und danach direkt wieder zur Entspannung zurückgekehrt wird. Fali kann in beide Richtungen gehen - nach außen explodieren, aber quasi auch nach innen implodieren, je nachdem in welche Richtung die Kraft gerade wirken soll.

 

Xuli - "Kraft sammeln"

Xu ="sammeln"
Li = Kraft

Xuli ist sozusagen die dem Fali vorausgehende Sammelphase für die Kraft. In gewissem Sinne wird Xuli in den Zhan Zhuang-Positionen wie z.B. Hunyuan Zhuang geübt. Am Anfang wird Xuli und Fali getrennt geübt - später soll es immer mehr gleichzeitig angewendet werden können.

 

Zhengli - "Dehnungskraft"

Zheng = kämpfen, streiten
Li = Kraft

Zhengli wird übersetzt mit "in gegensätzliche Richtungen ausdehnende Kraft", "gegenüberliegend Spannung" oder "widerstreitende Kräfte". Gemeint ist damit eine Kraft, die aus zwei gegensätzlichen Polen entsteht, eine Art "Spannungspotential". Mein Lehrer Jumin Chen hat den Begriff "Zheng" mit einem Bild so erklärt: ein Fußball, um den sich zwei Fußballmannschaften "streiten". Oder ein Apfel, an dem von zwei Seiten gezogen wird.

Zhengli kann innerhalb des Körpers erzeugt werden (Nei Zhengli) sowie auch "außen" vom Körper zur Umgebung (Wai Zhengli). Die Dehnspannung, die sich durch Zhengli ergibt kann unter anderem für Fali genutzt werden.

 

Hunyuan Li - "Ursprungskraft"

Hunyuan = Ursprung, Anfang, Einheit, Ganzheit
(Hunyuan ist synonym zu "Wuji", der Leere und usrprünglichen Ganzheit, dem Ur-Anfang)

Hunyuan Li wird als ausbalancierte Kraft d.h. eine Kraft die in alle Richtungen (z.B. die sechs Raumrichtungen) gleichzeitig wirkt, bezeichnet. Ursprungskraft, Einheitskraft, Ganzheitskraft des gesamten Körpers. Hunyuan Li soll lebendig, schnell, sanft, stark, kompakt und gleichzeitig flexibel sein. Hunyuan Li könnte man auch als ein Resultat bezeichnen, wenn alle sechs Hauptkategorien (Shen, Yi, Qi, Li, Xing und Sheng) gut aufeinander abgestimmt sind und gemeinsam wirken.

Die Hauptübung um Hunyuan Li zu entwickeln ist Mojin/Moli im Zhan Zhuang sowie auch - um Hunyuan Li weiter zu entwickeln - Shili und Mocabu. Möglichkeiten des Testens (Feedback) von Hunyuan Li sind z.B. Partnerübungen wie Push Hands.

 

 

 

 

Weiterlesen:

Yiquan verstehen