Geschichte / Historie des Taijiquan (Tai Chi Chuan)

 

 

Zur Entstehung, Entwicklung und Verbreitung des Taijiquan gibt es viele, teilweise sogar widersprüchliche Erzählungen, Anekdoten, Legenden und Mythen - innerhalb der Taijiquan-Familien in China sowie auch von praktizierenden Lehrern und Meistern und nicht zuletzt auch von Seite der historisch-sinologischen Forschungen. Doch selbst wenn nicht alles historisch nachprüfbar und belegbar ist, so sagt doch die Darstellung an sich schon etwas über das Wesen des Taijiquan aus. Von diesem Gedanken ausgehend macht es in jedem Fall Sinn, sich mit der Geschichte bzw. den Entstehungslegenden des Taijiquan auseinanderzusetzen.

 

Die Ursprünge des Taijiquan

Der Anfang des Taijiquan soll bei dem Mönch und Eremiten Zhang Sanfeng (Chang San-Feng) um das 12. Jh. n. Chr. liegen. Laut Überlieferungen war Zhang San Feng ein konfuzianischer Gelehrter sowie Meister der sogenannten "äußeren Kampfkünste" (Waijiaquan) d.h. des Shaolin Kung Fu. Schließlich ist er auf Wanderschaft gegangen und hat sich in die Wudang-Berge zurückgezogen zum Studium des Daoismus und der Meditation. Eines Tages soll er einen Kampf zwischen einem Kranich und einer Schlange beobachtet haben (einer anderen Version nach soll er von diesem Kampf geträumt haben). Dabei wich die Schlange den schnellen, direkten und harten Angriffen des Kranichs geschickt und geschmeidig aus, kreis- und spiralförmig windend, so dass die Attacken des Kranichs ins Leere gingen. Nach einiger Zeit gab der Kranich erschöpft auf. Dies zu beobachten veranlasste Zhang Sanfeng dazu, eine neue Kampfkunst zu kreieren, die beide Aspekte in sich vereint: die Idee, die beiden Pole Yin und Yang und deren Wirkweisen als Ausgangsbasis für eine andere Art von Kampfkunst zu nutzen, war geboren. Nicht nur Schnelligkeit und Kraft sondern auch Weichheit, Geschmeidigkeit, und ein geschickter Einsatz sowohl der eigenen Kraft als auch dem Umgang mit der Kraft des "Gegners".

Ob Zhang Sanfeng wirklich gelebt hat, ist nicht gesichert, um nicht zu sagen eher unwahrscheinlich.

Der nächste Name in Verbindung mit dem, was wir heute als Taijiquan kennen, ist Wang Zongyue (Wang Tsung-Yueh) um das 16. Jh. n. Chr. Er soll einen der sogenannten klassischen Texte des Taijiquan verfasst haben - das sogenannte "Traktat nach Meister Wang Zongyue" - und möglicherweise das Taijiquan in die Familie "Chen" im Dorf Chenjiagou in der Provinz Henan gebracht haben. Einer anderen Version nach soll Chen Wanting, ein berühmter General in der Ming-Dynastie und 9. Generation der Chen-Familie, selbst das Taijiquan aufbauend auf seiner Kampfkunst- und Militär-Erfahrung entwickelt haben.

Das Taijiquan - was damals noch gar nicht so genannt wurde (der Name "Taijiquan" kam erst recht spät, am Anfang des 20. Jahrhunderts auf) - wurde zunächst nur innerhalb der Chen-Familie gepflegt. Erstmals gelang es dem als Diener bei der Chen-Familie lebenden Yang Luchan (1799-1872) in der Familienkunst unterwiesen zu werden. Yang Lu-Chan hatte heimlich das Training beobachtet und versucht, das Gesehene zu üben und umzusetzen. Irgendwann wurde Chen Chang-Xing (1771-1853, 14. Generation der Chen-Familie) auf das Talent von Yang Luchan aufmerksam und von da an wurde ihm Zugang zum Familienwissen gewährt und er wurde offiziell unterrichtet.

 

Yang-Stil

Yang Luchan hat als Erster außerhalb der Chen-Familie Taijiquan erlernt. Sehr wahrscheinlich hat er aus dem, was er bei der Chen-Familie gelernt hat und eigenen Studien in den Wudang-Bergen sowie eines Kung Fu-Stils, den er vorher gelernt hatte (höchstwahrscheinlich Hung Gar Kung Fu), einen eigenen Stil kreiert - "den" Yang-Stil. In der Folgezeit soll Yang Luchan aus allen Kämpfen als Sieger hervorgegangen sein, was ihm die Beinamen "Yang der Unbesiegbare" oder auch "Yang, der nicht kämpft" eingebracht hat. Auch hat er am Hof des Kaisers die kaiserliche Garde unterrichtet. Seine Nachfolger waren jedoch seine Söhne Yang Chienhou und Yang Banhou. Größte Popularität erlangt hat sein Enkel Yang Chengfu, der erstmals Taijiquan in größerem Stil unterrichtet hat.

Im Laufe der Zeit hat sich die Erscheinungsform des Yang-Stils gewandelt und es existieren mittlerweile unzählige Variationen, die sich alle auf die Yang-Familie beziehen. Dabei hat die Yang-Familie in gewissem Sinne die Kontrolle über ihren Namen verloren - denn viele, die heute "Yang-Stil" unterrichten (und sich somit auf die Yang-Familie berufen) haben keine Verbindung mehr zu einem aktuellen Vertreter der Yang-Familie.

 

Alter Wu-(Hao-)Stil nach Wu Yuxiang, neuer Wu-Stil nach Wu Quanyou, Sun-Stil nach Sun Lutang...

Alle weiteren bekannteren Taijiquan-Stile wie der „neue“ Wu-Stil nach Wu Quanyou (der sich wiederum in einen südlichen Wu-Stil und nördlichen Wu-Stil unterteilen lässt), der alte Wu (Hao)-Stil nach Wu Yuxiang bzw. Hao Weizhen, der Sun-Stil nach Sun Lutang und einige andere mehr (siehe Stilübersicht) sind aus dem Chen-Stil und/oder Yang-Stil hervorgegangen. Es wird gesagt, dass die jeweiligen Stilbegründer bei Mitgliedern der Yang-Familie bzw. teilweise auch bei der Chen-Familie in Chenjiagou gelernt haben.

 

Quellen und Einflüsse zur Herausbildung des Taijiquan

Es gibt in der Hauptsache fünf Bereiche, die die Entstehung, Entwicklung und "Formung" des Taijiquan beeinflusst haben. Diese sind:

  • die chinesischen Kampfkünste („Kung Fu“ / Wushu): wie auch immer Taijiquan genau entstanden ist – seine Wurzeln liegen in vorher existierenden Stilen der damaligen chinesischen Kampfkünste
  • die „energetischen“ Übungen des Qigong, die an sich vor allem für Gesundheit, Energieausgleich oder auch als spirituelle Übung praktiziert werden (wobei diese Übungen früher andere Namen hatten wie Neigong oder Daoyin – die Bezeichnung "Qigong" ist erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts gebräuchlich) – mit dem „Qigong“ wurde jedoch der „innere“, mentale und „energetische“ Anteil der Übungen erhöht
  • daoistische oder vielleicht auch buddhistische Meditationsformen (die sich überschneiden können mit "Neigong" - manche Bereiche sind nicht ganz klar nur einer Sache zuzuordnen)
  • die chinesische Philosophie z.B. die Theorie von Yin und Yang, Wuji, Taiji usw.
  • nicht zuletzt hat auch das, was heute unter der Bezeichnung "Traditionelle Chinesische Medizin" (TCM) zusammengefasst wird, hat einen Einfluss auf das Taijiquan gehabt (u.a. auch wieder über deren Verquickung mit Qigong, Daoismus, Meditation usw.)

 

In welchen Teilen diese fünf Grundlagen das Taijiquan geformt haben, lässt sich nur schwer auseinanderdividieren. Auch, zu welcher Zeit Einflüsse bestanden haben, kann nicht gesichert gesagt werden. So wird z.B. diskutiert, ob die philosophischen Anteile nicht am Anfang bei der Entstehung, sondern erst später auf das Taijiquan "draufgepackt" wurden, da es anfangs sehr praxisorientiert als Selbstverteidigungskunst ausgeübt wurde. Auf der anderen Seite kann die chinesische Weltanschauung nur schwer "herausgerechnet" werden, denn auch damals in der Entstehungszeit waren Begriffe wie "Qi" und "Yin/Yang" selbstverständlich für Chinesen und so hat in jedem Fall die philosophische Vorstellung der Welt (Makrokosmos) und auch des Menschen (Mikrokosmos) einen Einfluss gehabt auf das Taijiquan.


Aufgrund dieses Zusammenflusses vieler Gebiete im Taijiquan hat man mit einem "guten" Taijiquan-Stil ein recht vollständiges Übungsprogramm an der Hand, was man bis ins hohe Alter ausüben kann. Und deswegen heißt es auch, dass in der Regel z.B. kein zusätzliches Qigong o.ä. notwendig sind wenn man Taijiquan übt (wie gesagt, je nach Vollständigkeit der jeweiligen Taijiquan-Linie) – in "gutem" Taijiquan ist Qigong mit enthalten bzw. Taijiquan kann als eine Art Sonderform („besondere Form“) des Qigong bezeichnet werden.


Taijiquan als "innere Kampfkunst" (Neijiaquan)

Aufgrund seiner Herkunft wird Taijiquan traditionell eingeordnet als sogenannte „innere Kampfkunst“ Chinas (Neijiaquan) - neben den beiden anderen klassischen inneren Kampfkünsten Xingyiquan und Baguazhang. Damit ist Taijiquan ein „Kung Fu“-Stil, auch wenn vielen das so nicht bekannt ist. Womit wir zum nächsten Abschnitt kommen:


Verbreitung und Veränderung des Taijiquan

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Taijiquan erstmals öffentlich in China unterrichtet. Später, Mitte der 50er Jahre, hat die chinesische Regierung (unter Mao Zedong (Mao Tse Tung)) Taijiquan entdeckt und mehrere Meister zusammengeführt, die eine einfachere kürzere Form erstellt haben („Peking-Form“/“Peking-Stil“), damit es für die große Masse erlernbar wird. Noch später, etwa ab den 70er/80/er/90er Jahren wurde auch zunehmend die sportliche bzw. wettkämpferische Seite im Taijiquan gefördert, so dass Vorführungen und Wettkämpfe in verschiedenen Disziplinen wie z.B. „Form-Demonstrationen“ und Push Hands (Partnerübungen) eingeführt wurden. (wodurch verständlicherweise weiter einer Verschiebung hin zu Ästhetik, „Äußerlichkeit“ und „Effekthascherei“ Vorschub geleistet wurde)

Im Zuge dieser Entwicklungsschritte hat sich Taijiquan stark gewandelt. Es wurde vereinfacht und verkürzt, sprich, z.B. die Formen wurden zu kürzeren Sequenzen umgebaut, schwierige Bewegungen wurden durch leichtere Varianten ersetzt, so dass eben auch ältere oder nicht an „Kampf“ Interessierte Taijiquan leichter lernen konnten. Was jedoch viel größere Auswirkungen hatte und nur vereinzelt wahrgenommen wurde: die „Inhalte“ des Übens, d.h. vor allem die Arbeit mit der Vorstellungskraft „Yi“, wurden vielfach zurückgehalten und herausgenommen, weil die Meister ihre „Geheimnisse“ nicht preisgeben wollten. (man muss dazu sagen, dass traditionell nur eine handvoll ausgewählte Schüler – manchmal sogar auch nur die eigenen Nachkommen – in die kompletten Geheimnisse von „Kung Fu“-Stilen bzw. Familienstilen „eingeweiht“ wurden)

Dadurch ist das meiste heute verfügbare Taijiquan leider immer noch ohne viel Inhalt. Da nur wenige (und schon gar nicht „Anfänger“) die eigentlichen Inhalte kennen, fällt es auch nur wenigen Leuten auf.

Die positive Seite dieser „Vereinfachung“ des Taijiquan ist jedoch, dass es dadurch einfacher lernbar und dadurch beliebter und bekannter wurde und sich praktisch weltweit verbreitet hat. (leider ist dabei die Frage, was da eigentlich „bekannter“ wurde, denn das Bild, was viele vom Taijiquan haben, stimmt eben mit dem, was es an vollem Potential bereithält nicht unbedingt überein)

Seit schätzungsweise ein oder zwei Jahrzehnten gibt es auch eine erfreuliche neue Bewegung: viele Übende merken nach einiger Zeit, dass etwas „fehlen“ könnte – und es gibt mehr und mehr Praktizierende, die „mehr“ wollen und daran interessiert sind, weiterzulernen. Das und wahrscheinlich die allgemeine Entwicklung des „Weltgeschehens“ (womit gemeint ist, dass in der Regel heute niemand mehr Taijiquan erlernt um seine Familie oder sein Dorf verteidigen zu müssen – die Zeiten haben sich doch gewandelt) tragen mit dazu bei, dass mehr und mehr Meister oder Familien sich öffnen und mehr der bislang meist zurückgehaltenen „Geheimnisse“ unterrichten.

Insgesamt hat sich Taijiquan dadurch jedoch gewandelt vom Selbstverteidigungs- und Kampfkunstsystem hin zu einem Gesundheits- und Entspannungsverfahren. Und es haben sich neue Taijiquan-Stile entwickelt, die teilweise auf nicht vollständigen Überlieferungen aufgebaut und wieder mit anderen Sachen gemischt wurden. Dadurch haben sich mehrere unterschiedliche Ebenen von Taijiquan nebeneinander entwickelt – von dem relativ inhaltsleeren reinen Entspannungs-“Taiji“ über schon „etwas bessere“ Stile mit mehr Inhalt bis hin zu den ursprünglichen Familienstilen, in denen die vollständige Überlieferung weitergegeben wurde.

Generelle Empfehlung daher: wer sich sehr für das ursprüngliche Taijiquan interessiert, ist aus meiner Sicht gut beraten, sich möglichst einen Lehrer/Lehrerin zu suchen, der oder die sehr nahe an einer der ursprünglichen Taijiquan-Familien steht.

In jedem Fall gibt es dadurch nicht "das" Taijiquan. Man muss immer genau schauen, wo kommt das Taijiquan her, wie wird geübt, werden die Inhalte "alle" vermittelt usw. Taijiquan ist nicht gleich Taijiquan.

 

Ziele des Ausübens von Taijiquan

Auch wenn hier verdeutlicht wurde, dass „originales“ Taijiquan eine Kampfkunst ist, braucht es nicht zwingend als Kampfkunst geübt werden. Es kann auch aus anderen Gründen wie Gesunderhaltung, Spaß an dieser Form der Übung und Bewegung usw. geübt werden. Entscheidend ist aus meiner Sicht, dass die Inhalte weitergegeben werden und auch geübt werden – denn sonst ist alles bloß reine Gymnastik (ohne Gymnastiklehrern zu nahe treten zu wollen) – aber wie Taijiquan angewendet wird bzw. zu welchem Zweck es geübt wird, kann jeder für sich selbst entscheiden. „Vollständiges“ Taijiquan enthält das Potential für die Erreicherung aller individuellen Ziele.

Wer an der Tiefe dieses Systems Freude hat, kann sogar ein „Hobby“ finden, was ihn ein Leben lang - und eben auch bis ins hohe Alter - mit Freude und Sinn erfüllen kann und auch ausführbar bleibt (im Gegensatz zu anderen „Sportarten“, die man irgendwann vielleicht nicht mehr ausüben kann).

 

 

 

 

 

 

Weiterlesen:

Stile des Taijiquan