Kung Fu, Wushu, Quan Fa... Chinesische Kampfkunst

 

Es geistern viele Begriffe (und Meinungen über diese Begriffe) im Bereich der asiatischen Kampfkünste durch die Welt. Im Folgenden möchte ich versuchen, eine kleine Übersicht zu geben und etwas Ordnung in das Chaos bringen. Wobei es in letzter Konsequenz ein bisschen "chaotisch" bleiben wird, da viele Begriffe einfach nicht einheitlich benutzt werden. Insofern beanspruche ich mit folgender Übersicht keine Allgemeingültigkeit, auch wenn ich nach bestem Wissen und meiner Erfahrung über die Jahre versuche, mich den einzelnen Begriffen zu nähern.

 

 

Kung Fu (Gong Fu)

 

"Kung Fu" ist ein alter chinesischer Begriff, der sich erst ab ca. den 1960er Jahren als Oberbegriff für die chinesischen Kampfkünste durchgesetzt hat. Kung Fu (oder auch "Gong Fu") wird meist übersetzt mit "harte Arbeit". Gongfu bezieht sich ursprünglich nicht nur auf die Kampfkünste sondern auch auf andere Bereiche und letztlich das gesamte Leben, indem es praktisch jede "Fähigkeit, die sich durch harte Arbeit über längere Zeit einstellt" meint - alle Aspekte des menschlichen Lebens erfordern harte Arbeit und Zeit. Dies ist mit "Kung Fu" eigentlich gemeint. Um "Kung Fu" bei den chinesischen Kampfkünsten zu erlangen ist ein regelmäßiges Training über lange Zeit nötig. Und das am besten strukturiert, systematisch (aufbauend) sowie "mit Inhalt" d.h. nicht einfach nur stupide Wiederholung "ohne Geist".

"Gongfu" kommt dann praktisch automatisch - aber nur wenn man wie oben beschrieben "richtig" trainiert. Man kann auch jahrzentelang "falsch" trainieren ohne dass sich "Gongfu" "automatisch" einstellt. Und in gewissem Sinne hört das Training auch nie auf - auch nicht wenn man "Gongfu" erreicht hat, wobei man es sowieso immer weiter verfeinern kann bis zum Lebensende. Dies alles bedeutet "Gongfu". Ein lebenslanges Abenteuer. :-)

 

 

Wushu (Wu Shu)

 

Wu = Krieg, Krieger, Kampf
Shu = Kunst, Kunstfertigkeit

Wushu = Kampfkunst, Kriegskunst

Wushu ist ein weiterer Oberbegriff für die chinesischen Kampfkünste - und eigentlich der passendere Begriff als "Kung Fu", auch wenn Kung Fu zumindest hier im Westen der bekanntere Begriff ist. Wushu wird mittlerweile unterteilt in traditionelles / klassisches / altes Wushu auf der einen und modernes (Sport-)Wushu auf der anderen Seite. Viele traditionelle Meister mögen den Begriff "Wushu" nicht, weil er sich heute, auch in China, meist auf das moderne (Sport-/Akrobatik) Wushu bezieht und die traditionellen Meister dies ablehnen, da viele ursprünglich für den Kampf effektive Bewegungen im modernen Sport-Wushu so verändert wurden, dass sie optimiert sind auf Akrobatik und letztlich den Show-Effekt und dabei ihre traditionelle Bedeutung und Tiefe verlieren.

 

 

Guoshu

 

Guo = Staat, Reich
Shu = Kunst, Kunstfertigkeit

Guoshu = "Nationale Kunst"

Guoshu ist ein eher seltener verwendeter, weiterer Oberbegriff für die chinesischen Kampfkünste.

 

 

Quanfa (Quan Fa) oder auch Quanshu (Quan Shu)

 

Quan = Faust
Fa = Methode
Shu = "Kunst"

Quanfa (kantonesisch "Kuen Fat") = wörtlich "Faust-Methode", also Kampfkunst

Quan Fa wird somit auch als ein weiterer, zu Kung Fu und Wu Shu synonymer Oberbegriff für die chinesischen Kampfkünste verwendet. Quanfa kann aber auch als Bezeichnung für die Faust-/Box-Techniken innerhalb eines Stils angesehen werden. (im Gegensatz z.B. zu Techniken mit der offenen Hand oder Tritttechniken usw. - siehe weiter unten)

 

 

Quan (Chuan) / Zhang (Chang) als Signalwörter

 

"Quan" sowie "Zhang" sind vielen, aber nicht allen, chinesischen Kampfkünsten in ihren Bezeichnungen/Namen angehangen und können als Signalwörter, dass es sich um eine chinesische Kampfkunst handelt, betrachtet werden.

  • Quan (alte Umschrift: Chuan) heißt wörtlich Faust
  • Zhang (alte umschrift: Chang) heißt wörtlich (offene) Hand

Beides - Faust und (offene) Hand - weisen wie gesagt darauf hin, dass es sich um eine Kampfkunst handelt. Beispiele für "Quan" sind Taijiquan (Tai Chi Chuan), Yiquan, Tanglangquan oder Baihequan - ein Beispiel für "Zhang" ist das Baguazhang oder Piguazhang. Dabei wird "-quan" wesentlich öfter benutzt als "-zhang".

 

 

Ist Taijiquan (Tai Chi Chuan) dann eine Kampfkunst = "Kung Fu"?

 

Wenn die Endung "-quan" beim Taijiquan Faust oder Kampfkunst bedeutet, dann wird daran ersichtlich, dass Taijiquan eine chinesische Kampfkunst ist. Eigentlich jedenfalls! Oder besser gesagt: ursprünglich... Heute wird Taijiquan mehr zur Gesundheitspflege (Yangsheng), Entspannung und sanfter Bewegung unterrichtet und geübt - womit es dann letztlich übrigens (nur noch) eine Form von "Qigong" wäre, auch wenn das vermutlich viele Lehrer bestreiten würden.

Übt man Taijiquan hingegen mit traditionellen Inhalten, also insb. Umsetzung der Prinzipien zum Training von "Jin" (sog. innerer Kraft) und Partnerübungen wie Push Hands und Anwendungen sowie auch schnelle Übungen/Formen und mit Waffen, dann kann Taijiquan absolut als eine Kampfkunst = "Kung Fu" betrachtet werden.

Taijiquan ist aus meiner Sicht zwar geeignet für jedes Alter - aber Taijiquan eben mehr oder weniger "nur" als einen "Alte-Leute-Sport" zu betrachten wird den eigentlichen traditionellen Taijiquan-Stilen nicht gerecht. Die Taijiquan-Meister fangen oft bereits in ihrer frühen Kindheit an zu trainieren - und hier im Westen fragen sich Leute mit Mitte 30 ob sie nicht (noch) zu jung wären für Taijiquan....... Das finde ich sehr schade, denn Taijiquan (und auch Yiquan usw.) haben auch für junge Leute viel zu bieten - vorausgesetzt, der jeweilige Stil und der jeweilige Lehrer unterrichten auch die "tieferen" Inhalte und Übungen.

(Gleiches gilt im übrigen auch für Yiquan - auch Yiquan ist eigentlich eine Kampfkunst (Yiquan), die heute teilweise "nur" zur Gesundheitspflege geübt wird - aber eben auch noch die tieferen Inhalte besitzt und als Kung Fu geübt werden kann.)

 

 

Ursprünge des "Kung Fu" - (nur kurz) etwas zur allgemeinen Geschichte...

 

Die Ursprünge des Kung Fu reichen mehrere Jahrtausende zurück. Eine Quelle sind sicher Kriege sowie die Notwendigkeit der Selbstverteidigung und des Schutzes der eigenen Familie sowie des Dorfes. Manche sagen, dass der lange Stock als Wanderstab o.ä. sicher eine der ersten Waffen war - und vielleicht sogar allgemein erst auch zu den waffenlosen Kampfkünsten geführt hat.

So oder so sind die Kampfkünste in China sehr früh Verbindungen eingegangen zu anderen Bereichen, insbesondere

  1. zu der Gesundheitsvorsorge d.h. zum einen zur chinesischen Medizin (heute TCM = Traditionelle Chinesische Medizin genannt) und auch zu dem, was man heute als "Qigong" bezeichnet
  2. zur religiös-spirituellen und teilweise meditativen Praxis und damit verbunden auch zum philosophischen Gedankengut der Chinesen - insbesondere in den buddhistischen und daoistischen Klöstern wie Shaolin, Wudang, Huashan...

 

Dadurch erklärt es sich vielleicht auch, dass die chinesischen Kampfkünste sich im Laufe der Zeit zu relativ ganzheitlichen Übungsverfahren entwickelt haben - eben weil sie mehr als nur ein Gebiet umfassen und dadurch auch z.B. mehr als nur eine reine Bewegungslehre ("Sport") darstellen.

 

Was historische Personen und die sie umrankenden Legenden angeht ist immer eine gewisse Vorsicht angebracht. Gerade auch in China wird gerne etwas "übertrieben", wenn ich das mal so schreiben darf... Trotzdem hier einige bekanntere Namen, die gemeinhin die chin. Kampfkünste mit geprägt haben sollen:

  • Hua Tuo - 2. Jh. n. Chr. - ein Arzt, der das sogenannte "Spiel der fünf Tiere" (Wu Xin Qi), das heute als eine Methode des Qigong geführt wird, begründet haben soll. Die Tierimitationen im Spiel der fünf Tiere sollen später mit zur Entwicklung der Tierstile im Kung Fu beigetragen haben.
  • Bodhidharma (Damo) - 5./6. Jh. n. Chr. - war ein indischer Mönch, der eine Linie des Buddhismus von Indien nach China gebracht haben soll. Er gilt als erster Patriarch des Chan-Buddhismus - in Japan "Zen-Buddhismus" genannt - in China. Bodhidharma wird die Entwicklung der Übungen des Yi Jin Jing (Muskel-Sehnen-Transformation) und Xi Sui Jing (Knochenmarkswaschung) zugeschrieben, die als Energie- und Bewegungsübungen (heute Qigong genannt) zusätzlich zu den langen Phasen der sitzenden Meditation den Körper "fit" halten sollten.
  • Marshall Yueh Fei - 12. Jh. n. Chr. - ihm werden die Entwicklung der stehenden und sitzenden Übungen der Acht Brokate zugeschrieben, angeblich entwickelt als Übung für seine Soldaten (heute in unzähligen Varianten ein Qigong-Set das meist dem medizinischen Qigong zugerechnet wird). Desweiteren soll Yueh Fei - einer Version nach - das Xingyiquan entwickelt haben, auf den längeren Märschen seiner Soldaten - Xingyiquan ist eher geradlinig orientiert und eine Übungsvariante ist das "Linienlaufen". Man kann durchaus kilometerlang so die Übungen immer wieder wiederholen... Yueh Fei wird darüberhinaus teilweise auch in Verbindung gebracht mit der Entstehung des Liuhebafa (Wasserboxen).
  • Zhang Sanfeng (Chang San-Feng) - 12. Jh. n. Chr. - er soll ein Meister der "äußeren" Kampfkünste (Waijiaquan) des "Shaolin Kung Fu" gewesen sein. Im Alter soll er sich dem Daoismus zugewandt haben und in den Wudang-Bergen gelebt und von den dort ansässigen Mönchen gelernt haben. Dort soll er irgendwann einmal den Kampf zwischen einer Schlange und einem Kranich beobachtet haben (in einer anderen Version soll er dies im Traum gesehen haben). Dabei ist die Schlange den geradlinigien, direkten, schnellen Bewegungen des Kranichs geschickt ausgewichen so dass die Angriffe ins Leere liefen - woraufhin Zhan Sanfeng dies als Prinzip erkannt hat und in Verbindung mit den damaligen daoistischen Energie- (Qigong/Neigong) und Meditationspraktiken zur Begründung der "inneren" Kampfkünste (Neijiaquan) beigetragen hat - im besonderen wird er als Urvater des Taijiquan angesehen. Inwieweit dies nur Legende ist oder Zhan Sanfeng wirklich gelebt hat, ist eine offene Frage.

 

 

Qigong und die chin. Kampfkünste

 

Qigong sind laut Kurzdefinition alle Übungen chinesischen Ursprungs, die mit Bewegung und/oder Atem und/oder Vorstellungskraft das "Qi" beeinflussen sollen. Der Begriff "Qigong" wird erst seit ca. 1956 benutzt - ältere vorherige Bezeichnungen, die auch teilweise noch verwendet werden, sind z.B. Daoyin oder Neigong.

Im vorherigen Abschnitt zur Geschichte wurde wahrscheinlich deutlich, dass Qigong die chinesischen Kampfkünste beeinflusst hat - und dass aber auch innerhalb der chinesischen Kampfkünste zu allen Zeiten weitere, neue Qigong-Übungen entwickelt wurden als Ergänzung zu den Kampfübungen. Insofern standen und stehen die chin. Kampfkünste und Qigong in engem Austausch. Und dadurch wurden auch viele Prinzipien aus dem Qigong in die chin. Kampfkünste mit integriert, was insbesondere in den sogenannten inneren oder halb-inneren Kampfkünsten eine große Rolle spielt. (Aus diesem Grunde übrigens braucht z.B. "der" Taijiquan- oder Yiquan-Praktizierende nicht unbedingt noch zusätzlich "Qigong" - Qigong ist in "gutem" Taijiquan und Yiquan schon enthalten und Teil des Gesamtsystems...)

Deswegen gibt es aber auch Überschneidungen der Ebenen, was manchmal schwer zu erklären ist, denn viele so entstandene, mit "Qigong" durchmischte chinesische Kampfkünste SIND dann letztlich (auch) Qigong, ENTHALTEN aber auch wiederum oft gesondert aufgelistete "Qigong"-Übungen, was für "Uneingeweihte" (und auch für viele "Eingeweihte") dann für Verwirrung sorgt. Generell ist es gut zu wissen, denke ich, dass viele Begriffe nicht völlig einheitlich benutzt werden. Selbst in China. Selbst bei den "Meistern".

 

 

Unterscheidungen innerhalb der chinesischen Kampfkünste

 

Im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende haben sich mehrere hundert verschiedene "Kung Fu-"Stile herausgebildet. Allein durch die Größe Chinas haben sich viele Stile weit verteilt und wiederum im Laufe der Jahrhunderte mit anderen Stilen oder Konzepten vermischt und wurden so verändert und angepasst, so dass es selbst bei ein und demselben Stilnamen manchmal mehrere Dutzend, wenn nicht gar hunderte Stilunterarten gibt, die sich mal mehr mal weniger deutlich voneinander unterscheiden.

 

1. Unterscheidung in Nördliche Stile (Beiquan) bzw. Südliche Stile (Nanquan)

 

Oft  trifft man auf die Unterscheidung in nördliche und südliche Stile:

Beiquan = nördliche Stile = "nördliches Bein" (bei tui)
Nanquan = südliche Stile = "südliche Faust"

Unterschiede zwischen den nördlichen und südlichen Stilen - die ungefähre Grenze wäre der Jangtsekiang - werden mit klimatischen und konstitutionellen Unterschieden der Menschen in Verbindung gebracht. Angeblich sollen die hochgewachseneren Menschen in Nordchina, wo es auch kälter ist als in Südchina, mehr die Beintechniken benutzt haben. Auch allgemein gibt es dort tiefere Stände. In Südchina haben sich höhere Stände und ein größerer Fokus auf die Armtechniken etabliert - vielleicht weil es dort klimatisch wärmer ist und andere sagen auch, weil vom Rudern die Arme stärker waren und höhere Stände mit kleinerer Standfläche auch auf Booten von Vorteil waren. So oder so ist die Einteilung in nord- und südchinesische Stile nicht sehr praktisch, weil mittlerweile fast alle Stile regionsübergreifend durch China "gewandert" sind und sich teilweise vermischt haben mit anderen Stilen, so dass es wenig eindeutige Zuordnungen in "reine" nord- bzw. südchinesische Stile gibt.

 

Als Nördliche Stile (Beiquan) werden u.a. bezeichnet:

  • Chang Quan (Langes Boxen)
  • Gottesanbeterinnen-Stil (Praying Mantis / Tang Lang)
  • Tan Tui
  • auch die sogenannten "inneren Kampfkünste" (s.u.) werden meines Wissens nach eher zu den nördlichen Stilen gezählt

 

Als Südliche Stile (Nanquan) werden u.a. bezeichnet:

  • Weißer Kranich Boxen (Baihequan)
  • Wing Chun (Yongchunquan)
  • Choy Li Fut
  • Hung Gar

 

 

2. Unterscheidung in sogenannte innere und äußere chinesische Kampfkünste

 

Als sogenannte innere Kampfkünste = Neijiaquan    (Nei = innen, Jia = Familie, Quan = Kampfkunst)    werden zumeist bezeichnet:

 

Zunächst ein Mal "die" drei sogenannte klassischen inneren Kampfkünste:

  • Taijiquan (Tai Chi Chuan) - "Kampfkunst des höchsten Prinzips
    Taiji (Tai Chi) = "höchstes Prinzip"

  • Xingyiquan (Hsing I Chuan)  - "Form-Geist-Boxen"
    Xing (Hsing) = Form, Gestalt
    Yi (I) = Geist, Vorstellungskraft

  • Baguazhang (Pa Kua Chang) - "Boxen der acht Trigramme"
    Bagua (Pa Kua) = die acht Trigramme


... Und manchmal auch noch (je nachdem wer gerade was wie definiert):

 

  • Liuhebafa (Liu Ho Pa Fa - "Wasserboxen"/"Wasserstil-Boxen")
  • Yiquan (I Chuan - Geist-Boxen)
  • Tongbeiquan ("durch den Rücken boxen")
  • Piguazhang
  • Bajiquan
  • und im Grunde ganz allgemein: Wudangpai     (Pai = "Gruppe", also alle Stile, die zur "Gruppe" des Wudang-Gebirges zählen - meistens insb. eben Taijiquan, Xingyiquan, Baguazhang usw., aber auch noch andere Unterstile)

 

 

Als sogenannte äußere Kampfkünste = Waijiaquan    (Wai = außen, Jia = Familie, Quan = Kampfkunst)    werden praktisch alle anderen Stile angesehen.

 

 

 

Wozu jetzt diese Unterscheidung? Wo kommt sie her und was wird da eigentlich unterschieden?

 

Die Unterscheidung innere/äußere Kampfkünste ist selbst wieder nicht einheitlich. Es gibt mindestens drei mögliche Deutungen:

  1. es wird unterschieden nach dem Einsatz von Kraft bzw. der Art der entwickelten Kraft: die Neijiaquan sollen innere, weiche Kraft entwickeln (Sehnenkraft, innere Energie "Qi") und auch weich, nachgebend, umleitend auf einwirkende (harte) Kraft reagieren d.h. auf sehr effizientem und geschicktem Einsatz des eigenen Körpers basieren - während gesagt wird, dass die Waijiaquan äußere, harte (Muskel-)Kraft kultivieren würden und auf Schnelligkeit beruhen und dadurch eher "auf Härte selbst mit Härte" antworten

  2. nach der Herkunft: die Neijiaquan sollen aus dem Wudang-Gebirge stammen und hauptsächlich daoistisch geprägt sein und gehören damit zu den inneren Stilen weil der Daoismus eine chinesische Philsophie ist - während die Waijiaquan aus dem Shaolin-Kloster (bzw. den Shaolin-Klöstern) stammen sollen und hauptsächlich buddhistisch geprägt sein sollen - und der Buddhismus kommt ursprünglich aus Indien, ist also keine eigentliche chinesische Entwicklung, deshalb "äußere Familie" = "nicht ursprünglich chinesisch". Da mag etwas dran sein - wie an vielen "Legenden" - aber über die Jahrhunderte haben sich vermutlich fast alle Schulen und Stile gegenseitig beeinflusst und sind somit nicht zuletzt auch von allen drei großen philosophischen Strömungen in China beeinflusst worden (Daoismus, Buddhismus, Konfuzianismus).

  3. nach dem generellen Trainingskonzept: es wird gesagt, dass die inneren Stile hauptsächlich Neigong = innere Arbeit (Nei = innen, Gong = Übung) und die äußeren Stile hauptsächlich Waigong = äußere Arbeit (Wai = außen, Gong = Übung) trainieren. im Grunde ist dies noch mal ein Thema für sich... Neigong verstehe ich mittlerweile ganz grundsätzlich als Übung mit der Vorstellungskraft (Geist), Nervensystem (Impulsweiterleitung), Bindegewebe und letztlich dann daraus resultierender Bewegung bei gleichzeitig größtmöglicher Entspannung (!). Im Neigong wird somit eine Art indirekte Bewegung geübt - vor der eigentlichen Bewegung sind Vorstellungsbilder, konkrete körpermechanische Prinzipien (u.a. auch feinkoordinierte Ausrichtung der Skelettstatik) usw. "vorgeschaltet", die dann erst die eigentliche Bewegung ergeben. Mit Waigong ist in Reinform ein "äußerliches" Training von Körper, (Muskel-)Kraft und Technik sowie auch Geschwindigkeit gemeint. Hier gibt es sozusagen "direkte" Bewegungen - ich möchte meine Faust nach vorne stoßen, also stoße ich meine Faust nach vorne - und das so kräftig und so schnell wie ich kann = direkte Bewegung. Weitergehend wird dann oft noch gesagt, dass Waigong äußere Kraft hervorbringt (Li = Muskelkraft), während Neigong innere Kraft (Jin oder undifferenziert manchmal auch "Qi" genannt) hervorbringen soll. (übrigens ist das dann ein oft wiedergegebenes Missverständnis, dass die äußeren Stile dann nicht mit "Qi" arbeiten würden - "Qi" ist aus chinesischer Sicht immer mit dabei - allerdings kann es sein, dass in den äußeren Systemen "Qi" eher blockiert wird durch zu große Anspannung u.ä.) Neigong ist letztlich die Umsetzung des Satzes: "Die Vorstellung "Yi" (Geist) führt die Energie "Qi" (Nervensystem, Gefühl, Bindegewebe...) - und das "Qi" bewegt den Körper."

  4. weiterhin kann "Neijia" und "Waijia" auch bedeuten, dass eine Kunst "innen" (Nei), innerhalb einer Familie (Jia), weitergegeben wird - und alle anderen Außenstehenden, die die "inneren Lehren" nicht lernen können, gehören dann zur "äußeren Familie" (Waijia) bzw. stehen eben außerhalb der Familie / Lerngemeinschaft.

 


Anmerkungen dazu:

  • es ist fraglich, ob diese Unterscheidung in innere und äußere Stile in dieser Deutlichkeit überhaupt Sinn macht - z.B. wird von vielen Meistern diese Unterscheidung mittlerweile als zum einen nicht immer zutreffend (wie will man z.b. Stile eindeutig einsortieren?!) und auch nicht immer nützlich angesehen - denn wenn man mal von der Art der Kraft und den Trainingskonzepten ausgeht, dann enthalten die meisten Stile vermutlich eine Mischung aus inneren und äußeren Anteilen (Neigong und Waigong). Und manchmal wird auch gesagt, dass die inneren Stile eben "innen" anfangen und im Laufe der Zeit auch das "Äußere" mittrainieren, während die äußeren Stile eben "außen" anfangen und mit der Zeit das "Innere" mittrainieren. Ein Automatismus ist das allerdings nicht, denke ich. In den grundlegenden Trainingskonzepten gibt es schon deutliche Unterschiede zwischen Neigong und Waigong, meiner Meinung nach, denn ob z.B. ein Stil auf maximale Muskelspannung und Schnelligkeit oder auf die Führung der Bewegung durch starke geistige Konzentration und Vorstellungskraft sowie "wohl dosierte" Muskelspannung (d.h. nicht maximale Anspannung sondern auch entspannte Anteile) legt, bringt schon erheblich andere Trainingsbedingungen hervor.
  • jedenfalls: idealerweise enthält jeder Stil sogenannte innere und äußere Anteile - das ist ein Grund, warum einer der aktuellen Yiquan-Großmeister, Yao Chengrong, über Yiquan sagt: "Yiquan ist halb innen, halb außen". Aus meiner Sicht wäre dies im Grunde für alle Systeme wünschenswert, denn grob gesagt muss der Körper trainiert werden (Waigong) und aber auch der Geist den Körper gut "führen" können (Neigong).
  • deswegen würde ich aus dem entweder-oder lieber ein sowohl-als auch machen und den Vergleich mit einem Dimmschalter wählen: statt nur Licht "ein" oder "aus" gibt es Grauzonen - und vor allem heißt auch nicht "innen" unbedingt "besser" und "außen" dann zwangsläufig "schlechter
  • Randbemerkung: "Nachgeben" oder "Weichheit" alleine muss nicht notwendigerweise ein Kriterium für die sogenannten innere Stile sein, denn z.B. Xingyiquan ist in seinen Anwendungen sehr direkt und wird trotzdem als "innerer" Stil bezeichnet - Taijiquan wird als der weicheste innere Stil bezeichnet, Baguazhang steht zwischen weich und hart, Xingyiquan wird dann als einer der "härtesten" inneren Stile bezeichnet
  • weitere Randbemerkung: die "Langsamkeit" die oft bei den inneren Stilen zu sehen ist (Paradebeispiel ist sicher das Taijiquan) ist kein Selbstzweck, sondern nur eine Methode mit Ziel der Feinkoordination - langsame Bewegungen lassen sich einfach viel feiner aussteuern als schnelle Bewegungen, insbesondere wenn dann noch "Inhalt" dazukommt, der diese langsame Bewegung führt ("Yi führt, Qi folgt und Qi bewegt den Körper") - wenn das nicht wäre, würde z.B. Taijiquan nie langsam ausgeführt werden, sondern direkt schnell, weil es ja eine Kampfkunst ist - und dann hätten wir hier im Westen wahrscheinlich niemals Taijiquan als "Entspannungsübung" kennengelernt. (das mal so ganz am Rande) Und deswegen aber auch, je mehr es in den Kampfkünsten (wie ja auch Tajiquan ursprünglich mal gedacht war) wirklich Richtung Kampfkunst geht, umso mehr kommen auch schnelle Übungen wieder hinzu. Idealerweise hat man dann schon in den langsamen Übungen soweit die Bewegungsmechanik verändert, dass die Prinzipien auch in schnelle Bewegungen nach und nach überführt werden können. - Viele überrascht es insgesamt, dass Taijiquan auch schnell geübt wird, u.a. deswegen dieser Einschub.

 

 

Einige technische Begriffe für fast alle chinesische Kampfkünste

 

Grundlegende Trainingsbereiche:

  • Jibengong - Grundübungen, Basisübungen
  • Shenfa - Körper-Methode, Rumpfarbeit aber auch die gesamte Körpermechanik
  • Bufa - Schritt-Methode (Positionen und Schrittarbeit)
  • Tuifa - Bein-Methode (Tritte, Feger (Sao)...)
  • Shoufa - Hand-Methode
  • Zhangfa - (offene) Hand-Methode, Techniken mit der offenen Hand
  • Quanfa - Faust-Methode, Techniken mit der Faust
  • Yongfa - (Kampf-)Anwendungen

 

 

Vier klassische Anwendungsbereiche im "Kampf":

  • Schlagen (Da)
  • Treten (Ti) und Fegen (Sao)
  • Werfen / Ringen (Shuai Jiao)
  • Greif-, Halte- und Hebeltechniken (Qinna / Chin-Na)

 

 

Tui Shou ("Push Hands") / cantonesisch Chi-Sao / jap. Kakie

Eine Besonderheit einiger chinesischen Kampfkünste stellt das sogenannte Tui Shou dar. Tui = schieben, drücken; Shou = Hand. Daher die Übersetzung "schiebende Hände" oder im englischen als "Push Hands" oder "Pushing Hands" bezeichnet. Im Wing Chun spricht man dann von "Chi Sao" und bei manchen okinawanisch-japanischen Karate-Arten gibt es ähnliche Übungen die dann "Kakie" genannt werden.

Bei den chinesischen Stilen findet sich Tui Shou vor allem in den sogenannten inneren oder halb-inneren Kampfkünsten wie eben Taijiquan, Yiquan oder auch im Wing Chun dann als "Chi-Sao". Das Tui Shou sieht dabei nicht immer gleich aus - je nach Stil, Auslegung der Prinzipien und dahinterstehenden Ideen kann es ganz unterschiedlich aussehen. Die Ziele von Tui Shou sind aber immer ähnlich: Erhöhung der Sensibilität/Wahrnehmung/"Fühlen", Reaktionstraining, Feedback-System um z.B. Fehler in der Körperstruktur, im Krafteinsatz, im Aufnehmen/Umleiten/Ableiten der Kraft, in den richtigen Kraftwinkeln usw. herauszufinden und ändern zu können - wie bekomme ich das Gleichgewicht des anderen gestört (während mein Gleichgewicht erhalten bleibt), wie kann ich ihn kontrollieren (statt er mich), wie kann ich Kraft übertragen/angreifen (statt nur mit "Verteidigen"beschäftigt zu sein) usw. - teilweise bis hinein ins Anwendungs- und Kampftraining.

Dabei gibt es - je nach Stil - Tui Shou-Übungen im festen Stand oder mit Schritten, mit einem Arm oder mit beiden Armen, feste Routinen bis hin zu kleinen "Formen"... freies Pushen also ohne fest vorgegebene Abläufe... Nur mit "fühlen". Oder mit "fühlen" und destabilisieren/kontrollieren. Oder eben bis hinein in Kampfanwendungen bis hin zum "Freikampf", also eine Art Mischung aus Tui Shou mit San Shou. Allgemein gesagt stellt Tui Shou ein Bindeglied dar zwischen den Basisübungen bzw. allen Soloübungen des jeweiligen Stils und dem Freikampf (San Shou) und ist eine wichtige ergänzende Methode, um die Jin-/Hunyuan Li-Kraft mit einem Gegenüber zu "testen", Feedback zu bekommen und weiterzuentwickeln. Im Yiquan wird auch noch gesagt, dass Tui Shou die Nachteile von San Shou ausgleichen soll, also wenn man z.B. in einen Arm- oder Körperkontakt kommt und nicht mehr direkt den anderen "attackieren" kann.

 

 

Waffen:

Es gibt natürlich eine Unzahl von Waffen in China. Klassischerweise wird z.B. beim Shaolin Kung Fu von 18 Waffen gesprochen. Letztlich wurde jeder nutzbare Gegenstand nach Notwendigkeit zur Waffe umfunktioniert z.B. bei der Bevölkerung, in der Landwirtschaft, zur Verteidigung... Jedoch gibt es vier Grund-Waffen, die nicht alle, aber sehr viele chin. Kampfkünste teilen, so auch z.B. die meisten Taijiquan-Stile. Dies sind zwei Kurzwaffen und zwei Langwaffen:

  • Schwert (Jian)
  • Säbel (Dao)
  • Langstock (Gun)
  • Speer (Qiang)

Der Säbel ist die Grundlage für alle Kurzwaffen, während das Schwert sehr viel schwieriger zu lernen ist. Ebenso ist der Langstock die Grundlage für alle Langwaffen und der Speer wiederum der "König der Langwaffen". Deswegen wird meistens mit dem Säbel für die Kurzwaffen bzw. dem Langstock für die Langwaffen begonnen und Schwert oder Speer erst später gelernt.

 

 

Übernatürliche, magisch-mystische Fähigkeiten?

 

Manchmal wird von "übernatürlichen" Fähigkeiten gesprochen, die einige Stile hervorbringen sollen - insbesondere möchte ich mich hier auf die "Kraft" beziehen, die man für Kampfkunst braucht, also das, was z.B. im Taijiquan "Jin" und im Yiquan "Hunyuan Li" genannt wird. Kurz und knapp würde ich dazu sagen, dass alles, was wir Menschen an Fähigkeiten entwickeln können, notwendigerweise "natürliche" Fähigkeiten sind. Es gibt keine Fähigkeiten, die außerhalb der Natur, also unserer Physik, Biologie, "Psyche"... liegen. Oft weiß man vielleicht noch nicht genau, wie diese Fähigkeiten zustande kommen, man kann es sich nicht erklären, vielleicht auch (noch) nicht wissenschaftlich  - aber das heißt nicht, dass es für immer unerklärlich bleiben muss oder gar "übernatürlich" sein soll. Viele Fähigkeiten entstehen einfach durch sehr "gutes" und auch sehr spezialisiertes Training bei den Meistern, teilweise über mehrere Jahrzehnte oder sogar das ganze Leben. Dann erscheinen uns diese Fähigkeiten/Kräfte nicht nachvollziehbar und/oder magisch-mystisch. Das zeigt aber nur, dass wir Menschen ein enormes Entwicklungspotential haben, was wir normalerweise nicht nutzen, das aber durch (am besten systematisches und strukturiertes) Training über längere Zeit zugänglich gemacht werden kann.

Auf der anderen Seite möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass man auch kritisch bleiben und nicht unbedingt alles glauben sollte was man sieht. Z.B. gibt es auf Youtube viele Kraft-Demonstrationen ("Qi-Demonstrationen"), bei denen ich kritisch wäre. Vieles was man da sehen kann beruht auch auf "Tricks" und psychologischen Manipulationen, manche vermuten Tranceinduktionen/Hypnose, unabhängig davon ob die "Opfer" bewusst mitmachen/die Kontrolle abgeben oder sich dessen nicht mal bewusst sind. Insbesondere wenn Leute "fliegen" ohne dass ein physischer Kontakt d.h. ohne reale Berührung und ohne physisch-physikalisch nachvollziehbare Kraftübertragung zwischen beiden Personen besteht - das wird dann "Kong Jin" = leere Kraft genannt - wäre ich sehr skeptisch, um es mal vorsichtig zu formulieren.

 

 

Geheimnisse?

 

Manchmal wird behauptet, es gäbe (keine) "Geheimnisse" in den chinesischen Kampfkünsten. Doch bevor man anfängt, sich darüber zu streiten, ob es Geheimnisse gibt oder nicht, ist es aus meiner Sicht sinnvoll sich zunächst mal klarzumachen, dass es nicht "die" chinesischen Kampfkünste gibt und somit wahrscheinlich höchst unterschiedlich mit sogenannten "Geheimnissen" umgegangen wurde. Desweiteren wäre die Frage, was ein Geheimnis überhaupt sein soll? Ein Geheimnis ist zunächst mal definiert als "Information, die einer bestimmten Personengruppe oder einzelnen Personen, für die diese Information von Interesse sein könnte, nicht bekannt ist und auch nicht ohne weiteres zugänglich ist". Wenn man diese Definition zugrunde legt, würde ich persönlich sagen, dass es in vielen Stilen schon "Geheimnisse" gibt, was zum einen in der Natur der Kampfkünste liegt und zum anderen in der früheren historischen Situation.

Zunächst: die Überlegenheit im Kampf wird gefördert, wenn ich eine nützliche Information habe und jemand anderes nicht. Das ist also ein Aspekt von Schutz des eigenen Lebens (in früheren Zeiten). Außerdem ist es zum Erhalt von Status günstig, wenn andere nicht die gleichen Fähigkeiten erreichen können. Viele chinesische Kampfkünste wurden und werden innerhalb von Familien trainiert und weitergegeben (daher die Bezeichnung "Familienstile"), was dann z.B. dazu führte, dass die wesentlichen Informationen nur innerhalb der eigenen Familie und nicht an Außenstehende Schüler weitergegeben wurden, damit möglichst niemand anderes so "gut" wird wie die Familie selbst und die Familie quasi ein "Monopol des Wissen" weiterführen kann.

Manchmal wurden dabei einfach nur wichtige Informationen weggelassen im öffentlichen Unterricht. Manchmal wurden auch bewusst Veränderungen erschaffen und der Fokus auf "falsche" Punkte gelegt - im Grunde also eine gezielte Desinformation. Wir können das heute in der Regel nicht so ganz nachvollziehen, weil wir mit unserem Schul- und Universitätssystem, zumindest vom Grundsatz her, alles Wissen frei verfügbar gemacht haben. Aber meiner Erfahrung nach in den verschiedenen Systemen die ich trainiert habe und immer noch trainiere gibt es schon in vielen Stilen bzw. Linien eine Zurückhaltung von Wissen - und teilweise ist vielleicht auch viel Wissen verloren gegangen.

Gründe hierfür liegen zum einen eben daran, dass viele Meister eben nie alles gezeigt haben (insb. eben der größeren Öffentlichkeit) und deswegen manchmal nur Teile weitergegeben wurden. Ein anderer Grund liegt in der Kulturrevolution in China (1966-1976). In dieser Zeit wurde die Ausübung der traditionellen Kampfkünste verboten und ist in den Untergrund getreten - viele Stile sind so wahrscheinlich verloren gegangen oder wurden zumindest in ihrer Qualität vermindert.

In jedem Fall ist aus meiner Sicht eine freie Weitergabe von Wissen und auch ein allgemeiner Austausch zu begrüßen. Die Zeiten ändern sich, was das angeht, zum Glück - und immer mehr Stile "öffnen" sich und Sachen, die lange unter Verschluss waren, treten mehr und mehr zutage. Aber die Leugnung der Existenz von sogenannten "Geheimnissen" macht aus meiner Sicht eben auch keinen Sinn - bestimmte Informationen wurden sicherlich zurückgehalten von vielen Meistern, aus den unterschiedlichsten Gründen. Natürlich ist es nicht angenehm zu hören, dass in dem eigenen Stil soetwas auch sein könnte - ich vermute, das ist dann auch einer der Gründe warum viele Leute behaupten "es gäbe keine Geheimnisse".

 

 

Formen - oder formlos?

 

Unter "Formen" versteht man für gewöhnlich festgelegte, manchmal schon fast ritualisierte Bewegungsabläufe. Fast alle chinesischen Kampfkünste, aber auch z.B. das okinawanisch-japanische Karate, beinhalten mindestens eine und meist sogar mehrere Formen. Die gängigsten Bezeichnungen für Formen sind:

  • Daolu / Taolu (übliche hochchinesische Bezeichnung)
  • Kuen (südchinesische / cantonesische Bezeichnung)
  • Kata (jap. Bezeichnung)

 

Formen enthalten traditionellerweise die meisten oder alle Techniken eines Stils. Sie stellen eine Übung, aber somit auch eine Art "Merkzettel" für das Technikrepertoire dar. Viele Leute mögen Formen auch wegen ihrer oftmals ästhetischen Qualitäten.

Das Üben von Formen tendiert in der heutigen Zeit dazu, ein leeres Ritual zu werden. Die jeweilige Form - und somit jede einzelne Bewegung - muss am besten von innen geführt werden, so dass die dahinterliegenden Prinzipien und Vorstellungen auf der einen Seite, sowie die eigentliche ursprüngliche Anwendungsidee für den Kampf (manchmal dann auch "Funktion" genannt) zusammen genommen die geübten Bewegungen ergeben. Jedenfalls im Taijiquan sollte es so sein. Somit folgt die äußerliche Bewegung der inneren Führung (Neigong), die sich wiederum durch die "Funktion" der jeweiligen Bewegung sowie den Prinzipien der Erzeugung von Kraft ergibt. Ganz anders sieht die Sache aus, wenn die Prinzipien nicht geübt und keine Anwendungsideen bekannt sind - das ist dann das, was viele Meister als "leere Bewegungen" und "nutzlos" oder als "Zeitverschwendung" bezeichnen.

Deshalb gilt es meiner Meinung nach, darauf zu achten, die Formen mit Inhalt zu füllen und "lebendig" werden zu lassen. Auch die immer gleichen Abläufe der Formen laden mitunter zu geister Trägheit ein sowie auch zu einer zu festen Verquickung einzelner Techniken miteinander im Sinne von "auf Technik A folgt (immer) Technik B" - das kann in einer freien Übungssituation oder in der realen Anwendung der Kampfkunst ganz anders aussehen.

Übrigens sind dies auch einige der Gründe, warum manche Kampfkünste komplett auf Formen verzichten - u.a. ja auch das von mir unterrichtete Yiquan. Meister Wang Xiangzhai ist schon vor hundert Jahren aufgefallen, dass die Fixierung auf Formen und festgelegte Bewegungsabläufe auch zu sehr auf das "Äußere" fixiert und dabei die "innere" Übung mit der Vorstellungskraft (Neigong) verloren geht.

 

 

Tradition vs. Moderne - ein Spannungsfeld

 

Mein Yiquan-Lehrer Jumin Chen hat mal in einem seiner Kurse gesagt "Je älter desto schlimmer!". Ich finde, da ist etwas dran. Es gibt ein großes Bestreben von vielen Seiten, an möglichst ursprüngliche, authentische Traditionen und Information zu kommen. Das finde ich ebenso wichtig und gut. Auf der anderen Seite verändert sich auch alles immer und wird optimalerweise angepasst z.B. an neue Erkenntnisse nicht zuletzt auch aus den westlichen Wissenschaften wie Medizin, Biologie, Psychologie, Sportwissenschaft, Physik usw. Wann fängt man an, anzupassen? Mir erscheint es sinnvoll, dies erst zu tun, wenn man die Tradition weit genug durchdrungen hat nach langjährigem Training. Und selbst dann ist es glaube ich gut, "vorsichtig" zu bleiben - wenn mir "neue" Erkenntnisse durch den Kopf gehen dann bezeichne ich sie selbst gerne als "Arbeitshypothese" - sie können richtig sein und beim Verständnis helfen - sie können sich aber auch nach einiger Zeit als nicht ganz richtig erweisen, dann müssen sie entweder korrigiert oder fallengelassen werden. Forschen, nachdenken, verknüpfen wird gerade im Yiquan sehr gefördert und finde ich auch wichtig. Nur weil etwas alt ist, ist es noch nicht gut. Nur weil etwas alt ist, ist es noch nicht schlecht! Umgekehrt, nur weil etwas "neu" ist, ist es noch nicht besser als das Alte. Alt und neu - Tradition und Moderne - ein Spannungsfeld für jeden auf dem "Weg". ;-) Erfahrung und Test in der Praxis (z.B. auch im Push Hands usw.) können immer wieder Feedback geben. Deswegen möchte ich fast ausrufen: "Die Tradition in kompletter Tiefe lernen - und gleichzeitig offen bleiben für Veränderungen!"

 

 

Budo, Kempo... und zum Schluss noch ein wenig japanisch - der Vollständigkeit halber!

Budo = jap. Oberbegriff für die Kampfkünste Japans und Okinawas (Bu = Krieg, Kampf / Do = Weg)

Kempo/Kenpo = jap. Bezeichnung für "Kung Fu"

 

 

 

Vielen Dank für das Lesen - und ich hoffe, dass ein paar Dinge klarer geworden sind!