Schlüsselpunkte des Qi Gong: 6. Vorstellung ("Yi") und "Qi" folgen einander - und das "Qi" bewegt den Körper
(ebenso gültig für Tai Ji Quan und Yi Quan)
Im Qi Gong, in der chinesischen Medizin und auch in den chinesischen Kampfkünsten gibt es übereinstimmend die Idee, dass das 气 Qi der Vorstellungskraft (意 Yi) folgt. Bzw. andersherum ausgedrückt: „Yi führt, Qi folgt“.
- 气(氣) Qì – Gas, Luft, Atem, Wetter; Gebaren, Verhalten … im Kontext der chinesischen Medizin: „Lebensenergie“
- 意 Yì – Bedeutung, Idee, Gedanke, Wunsch, Begehren, Intention, Absicht, Erwartung, Vorstellung
Insbesondere für Bewegung usw. kann 气 Qi hier auch als Empfindung übersetzt werden. 气 Qi ist so gesehen wie eine „Welle“ – und der Körper bewegt sich mit dieser „Welle“, surft sozusagen auf dieser Welle. Das erklärt am besten, inwiefern „das Qi den Körper bewegt“. – Im übergeordneten Sinne kann man 气 Qi aber auch als die treibende Lebens-Kraft überhaupt betrachten. (und ganz ohne Qi wären wir auch tot)
Das 意 Yi – die Vorstellungskraft – wiederum ist dasjenige, welches „Empfindungen“ hervorruft = „Qi“.
Insofern lässt sich folgender Zusammenhang abbilden:
Yi → Qi → Bewegung
Oder auch mit anderen Worten ausgedrückt:
Vorstellungskraft → „Empfindung“ → Bewegung
(= der Körper „surft“ auf dieser „Empfindungs-Welle“, die durch das Yi ausgelöst wurde)
An dieser Stelle kann man eigentlich gut sehen, dass hier Geist, „Energie“ und Körper gleichzeitig und gemeinsam geübt bzw. „zusammengeführt werden. Und diese Zusammenhänge sind auch in den sog. drei inneren Harmonien formuliert:
內三合 Nei San He – Drei innere Harmonien
- 內 Nèi – innen, innere Seite, inmitten, innen drin
- 三 Sān – drei
- 合 Hé – kombinieren, vereinen, verbinden, schließen; versammeln; (hier auch: koordinieren)
Eine gängige Kurzfassung der drei inneren Harmonien lautet: 心意气力 Xin Yi Qi Li
- 心 Xīn – Herz, Gefühl; Geist; Absicht; Zentrum, Kern
- 意 Yì – Bedeutung, Idee, Gedanke, Wunsch, Begehren, Intention, Absicht, Erwartung, Vorstellung
- 气(氣) Qì – Gas, Luft, Atem, Wetter; Gebaren, Verhalten … im Kontext der chinesischen Medizin: „Lebensenergie“
- 力 Lì – Kraft, Stärke, Fähigkeit → hier auch stellvertretend für den Körper und letztlich auch Bewegung, weil Bewegung auf „Kraft“ beruht
Und das bedeutet eigentlich letztlich nichts anderes, als dass sich alle vier Komponenten (Xin, Yi, Qi, Li) miteinander verbinden bzw. aktiv miteinander koordiniert werden, eigentlich letztlich „eins“ werden. (und so gesehen alle vier Komponenten, da sie alle zusammengehören, auch alle miteinander wechselwirken - das ist der Grund, warum der Schlüsselpunkt dann auch "Vorstellung (Yi) und Qi folgen einander" lautet... aus praktischer Sicht nimmt das Yi allerdings eine zentrale Rolle ein, da es so gut wie alle anderen Prozess anstößt, führt und "lenkt")
Nur der Vollständigkeit halber: Diese drei inneren Harmonien sind wiederum selbst Teil der sog. Sechs Harmonien (六合 Liu He), die zwar vor allem in den chinesischen Kampfkünsten benutzt werden – u.a. auch im Yi Quan und Tai Ji Quan – aber mindestens in Teilen eben auch für das Qi Gong gültig sind.
- 六 Liù – sechs
- 合 Hé – kombinieren, vereinen, verbinden, schließen; versammeln; (hier auch: koordinieren)
Erweiterter Begriff für Yi (Vorstellungskraft): 心 意 XinYi
Oft wird nur von Yi gesprochen, aber der vollständigere Begriff ist eigentlich 心意 Xin Yi:
- 心 Xīn – Herz, Gefühl; Geist; Absicht; Zentrum, Kern (hier auch: engl. "emotional mind")
- 意 Yì – Bedeutung, Idee, Gedanke, Wunsch, Begehren, Intention, Absicht, Erwartung, Vorstellung → steht hier auch für (engl.) "rational mind"
→ 心意 Xin Yi = "emotional mind" und "rational mind" zusammen, also emotionale und rationale Anteile des "Geistes" (engl. mind) → 心意 Xin Yi ist also eigentlich der etwas vollständigere Ausdruck als nur Yi alleine ( → wenn von Yi gesprochen wird, ist oft 心意 Xin Yi gemeint)
Was ist 心意 Xin Yi? Wie kann man es für unser Üben beschreiben?
Für das Üben von Qi Gong (und auch Tai Ji Quan und Yi Quan) ist 心意 Xin Yi am besten praktisch beschrieben als „so tun als ob“. Der Begriff „Vorstellungskraft“ führt manchmal insofern in die Irre, als er impliziert, man müsste sehr verstandesmäßig machen / sehr viel „denken“ oder auch „imaginieren“. Da ist auch zum Teil etwas dran.
Allerdings ist „so tun als ob“ der viel entspanntere, natürlichere, spielerischere Ansatz – denn es ist eigentlich wie beim Spiel „Pantomime“, bei dem man auch „so tut als ob“. Wenn ein Kind beispielsweise in der Luft „so tut als ob“ es an einer Wand entlangfährt mit den Händen, wird es sich schon für das Kind nach kurzer Zeit „so anfühlen als ob“ es tatsächlich mit den Händen an einer Wand entlangfahren würde.
Genau dieser Effekt ist eigentlich mit „Vorstellungskraft“ bzw. 心意 Xin Yi gemeint.
In diesem Zusammenhang wird oft auch von „Yi benutzen“ gesprochen – bzw. insbesondere aus dem Yang-Stil Tai Ji Quan stammt folgende Formulierung dieses „Prinzips“:
用意不用力 Yong Yi, Bu Yong Li – „Vorstellungskraft benutzen, keine Kraft benutzen“
- 用 Yòng – benutzen
- 意 Yì – Bedeutung, Idee, Gedanke, Wunsch, Begehren, Intention, Absicht, Erwartung, Vorstellung
- 不 Bù – nicht, kein
- 用 Yòng – benutzen
- 力 Lì – Kraft, Stärke, Fähigkeit
D.h. wir benutzen 心意 Xin Yi...
Und warum benutzen wir 心意 Xin Yi?
Weil die „Vorstellungskraft“ die treibende Kraft für alles ist. Wir hatten weiter oben schon den englischen Begriff „mind“ benutzt sowohl als Übersetzung für 心 Xin und 意 Yi (emotionale und rationale Teile des Geistes)… Und der „Geist“ führt eben fast alles andere an:
- Bewegung (动 Dòng) → Bewegung beginnt im „Geist“/Gehirn/Nervensystem
- Körperhaltung (形 Xíng) → wird ebenfalls vom Nervensystem gesteuert
- “Energie” (气 Qì) → wird hatten weiter oben schon geklärt, dass das Qi dem Xin und Yi folgt
- Entspannung (松(鬆) Sōng) → auch Entspannung „beginnt im Kopf“
- …
Das Yi bzw. 心意 Xin Yi beeinflusst praktisch alles andere, deswegen ist die Vorstellungskraft so zentral für das Üben von Qi Gong (und Tai Ji Quan – und Yi Quan sowieso, dass das „Yi“ ja schon im Namen trägt).
Selbst aus dem Alltag kennen wir den Zusammenhang von „Denken“ und „körperlichen Reaktionen“: es reicht, nur an ein leckeres Essen intensiv zu denken – es läuft uns auch so (ohne dass das Essen da ist) das Wasser im Mund zusammen. - Oder wenn wir glauben, beispielsweise ein Ball würde auf uns zufliegen und uns gleich im Gesicht treffen: wir erschrecken uns wahrscheinlich, zucken zusammen, schützen uns - und sind ganz erleichtert, wenn wir hinterher merken, dass wir nicht getroffen worden sind. Das interessanteste daran ist eigentlich, dass das genau so abläuft, selbst wenn gar kein Ball auf uns geworfen wurde! Es reicht allein, dass wir den realen Eindruck bekommen, ein Ball würde auf uns zufliegen! Wir reagieren zunächst mal genau gleich wenn ein der Ball tatsächlich auf uns zugeflogen kommt wie wenn wir nur "irrtümlich" den Eindruck hatten, ein Ball wäre geflogen.
(Nebenbei, in gewissem Sinne steckt in dem gerade Geschriebenen eine sehr gute Nachricht drin: wir können nämlich alle sowieso schon "die Vorstellungskraft benutzen" - in dem Beispiel mit dem Ball machen wir das rein intuitiv, spontan und ohne "bewusstes Nachdenken"... man könnte nun für Qi Gong usw. sagen, dass wir einfach nur lernen müssen, diesen Effekt von "Vorstellungskraft" uns bewusst nutzbar zu machen für unsere Übungen... allerdings, bevor es hier Missverständnisse gibt, stellen wir uns eher keinen Ball vor der auf uns fliegt, sondern es sind natürlich ganz andere Vorstellungen, die wir in unseren Übungen üben.)
Weitere Aspekte von „Vorstellungskraft“ (心意 Xin Yi)
In unserem (Übungs-)Zusammenhang sollten noch kurz ein paar weitere Aspekte erwähnt werden, die mit „Vorstellungskraft“ zu tun haben, aber die alleine auch nicht ausreichen:
- (geistige) Ruhe → nur relativer geistiger Ruhe und Klarheit ist es gut möglich, die Vorstellungskraft gut zu benutzen
- gleichzeitig Wachheit/Aufmerksamkeit/Achtsamkeit (insb. für das, was wir gerade tun, also z.B. die aktuelle Übung – und für Prozesse in uns währenddessen, also z.B. Körperhaltung, Körperspannung usw. fühlen, „Gedanken beobachten“ usw.)
- hier sei auch an den sog. „Qi Gong-Zustand“ und das „in die Ruhe eintreten“ (RuJing) erinnert
- insb. Im Yi Quan gibt es den Ausdruck „Yi wie echt“ – und das kann auch heißen: relativ konkret - aber auch nicht zu konkret... (es wäre ja sonst auch zu einfach...)
- ohne Yi bleiben viele Übungen „leer“
- insb. für bewegungsorientiertes Qi Gong oder auch Tai Ji Quan, Yi Quan oder andere Kampfkünste interessant: das Yi führt auch zu Koordination und „Verbindung“ (→ alles / alle Aspekte miteinander koordinieren und verbinden)
- dies fördert wiederum geschmeidige, fließende Bewegungen (was auch wieder für Qi Gong erstrebenswert ist)
Kurze Anmerkungen zu 气 Qi
- Qi kann auch als eine „physiologische Komponente“ angesehen werden – und als „Empfindung“ wie vorher schon genannt z.B. als Wärme, Leichtigkeit, Schwere/Fülle, Kribbeln, …
- je entspannter, weicher usw. wir sind, umso besser kann der Körper auf dieser Empfindung „surfen“ (s.o.)
- bzw. je entspannter, weicher usw. wir sind, umso besser kann sich überhaupt auch erst eine durch Yi hervorgerufene "Empfindung" ergeben - bzw. wir spüren es dann einfach besser (ein durchweg harter, steifer, verspannter Körper ist nicht so "empfänglich" für Veränderungen und Empfindungen, die durch Yi ausgelöst werden...)
- da das Qi ja u.a. am Yi dranhängt, wird in einigen Übungssystemen so gut wie gar nicht (oder gar nicht) von Qi gesprochen – insb. wenn dann viel „mit Yi“ geübt wird, wird Qi trotzdem immer mittrainiert - denn das Qi folgt ja dem Yi... (nur der Vollständigkeit halber: Qi wird auch über Körperhaltung, Bewegung, Atmung, … beeinflusst – nicht nur über Yi. Aber man könnte sogar wieder einwenden, dass das Yi wiederum Körperhaltung, Bewegung und Atmung mind. zu einem Teil steuert → und genau deswegen spielt das Yi so eine besondere Rolle als „Schlüsselpunkt“ des Qi Gong, Tai Ji Quan und Yi Quan)
Zum Schluss sollte man noch anfügen, dass – obwohl das Yi so eine zentrale Rolle spielt – manchmal und an manchen Tagen auch mal komplett ohne bewusstes Yi geübt werden sollte. Denn die Leere (无極 Wu Ji), Leerheit, „leer zu werden“ / mit leerem Geist zu üben – so gut es geht – ist auch ein Aspekt, der mit dazugehört.
- 无極 Wu Ji – Ursprung, Uranfang, Leere, Nichts (symbolisch meist dargestellt als "leerer Kreis") --> undifferenziert, ohne Extremität(en)/Pole
- 无 (無) Wú – nichts, nicht, Nichts, Null
- 極 Jí – äußerster Punkt, Extremität, Pol
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Schlüsselpunkte des Qi Gong: 7. Bewegung und Ruhe gehören zusammen