Stilübergreifende Kernthemen: 2. "Kraft" - allgemein
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Das Wichtigste in Kürze:
Vorbemerkungen
- wenn wir über "Kraft" reden sind (relativ) klare Definitionen wichtig → man muss immer klären, worüber man gerade genau redet, und ob jeder die gleiche Definition teilt oder etwas anders definiert
- und damit verbunden: etliche Dinge haben verschiedene Aspekte - und man muss selbst bei einem (gleichen) "Thema" aufpassen, dass nicht einer über Aspekt A redet und jemand anderes über Aspekt B (und am Ende beide doch aneinander vorbei reden)
- und die Wahrheit liegt wahrscheinlich oft irgendwo in der Mitte (zwischen den Extremen) → in Bezug auf "Kraft" könnte man direkt z.B. sagen: es ist also nicht nur mit Qi… aber eben auch nicht komplett ohne Qi → oder auch: es ist nicht nur mit (Muskel-)Kraft, aber auch nicht komplett ohne (Muskel-)Kraft (wir klären das alles noch genauer)
- damit möchte ich sagen: wenn wir uns genauer angucken, wie "Kraft" zustande kommt, dann gibt es dafür nicht eine Lösung, sondern viele Dinge tragen zu "Kraft" bei
- und die Antwort ist dadurch eben i.d.R. nicht „entweder oder“, sondern oft „sowohl als auch“ bzw. oft spielt alles eine Rolle
- z.B. Körperhaltung/Struktur, Dynamik, Muskeln, Yi, Qi, Shen (Geist), Momentum (Kraft des Körpers mitbenutzen)
- … wenn jeder einzelne Skelettmuskel 2 Newton beisteuert hat man auch viel Kraft (statt, dass ein Muskel 400 Newton beisteuert)...
- usw.
"Kraft" - was spielt alles eine Rolle?
- Zwei Hauptquellen:
- aus unserem Körper heraus erzeugt
- und von der Erde geliehen (die Erde ist unsere einzige „externe physische Kraftquelle“ – im Normalfall; solange wir uns nirgendwo anlehnen, festhalten, heranziehen… wobei auch alle Objekte letztlich in der Erde verankert sind)
- Muskeln, Sehnen, Bindegewebe/„Faszien“, Bänder (passiv)…
- Mobilisatoren („Beweger“): oberflächliche, oft große Muskeln
- Stabilisatoren („Stabilisierer“): tiefliegende, oft kleinere Muskeln / „Tiefenmuskulatur“
- mehr Muskelfasern werden angesteuert – effizientere Koordination des Muskels (das Gehirn steuert Muskeln effizienter an + synchronisierter + mit mehr Nervenimpulsen) → Muskelfasern werden dicker + stärker, aber wir bauen nicht neue Muskelfasern auf
- Körperhaltung/“Struktur“/“Knochenstatik“ (z.B. gesetzte Schulter, die den Arm mit dem Rumpf gut verbindet – oder gerade Körperhaltung statt nach hinten gelehnt → die Kraft muss durch den Körper in die Füße geleitet werden können, aber auch von den Füßen bis in den Körper)
- Kraftverständnis – Kraftpaare (Newton), Bewegungsmechanik (Kraftketten usw.)…
- Kraft „leihen“ aus dem Boden (s.o.)
- Entspannung (Öffnen → Verbindung; isoliert vs. „gesamt“; „Sinken“; Bewegungswiderstand im eigenen Körper reduziert…)
- Ganzer Körper (→ Koordination → „Kraftketten“)
- 全身力一 Quan Shen Li Yi („ganzer Körper wie eine Kraft“)
- 全 Quán – ganz, komplett, voll, total
- 身 Shēn – Körper; Leben
- 力 Lì – Kraft, Stärke, Fähigkeit
- 一 Yī – eins
- Bsp.: in meinem Arm „sammelt“ sich die koordinierte Kraft des ganzen restlichen Körpers (statt isolierter Armkraft)
- und zu diesem Punkt gehört auch die Frage, wo Bewegung initiiert wird - und hier ist die kurze Antwort: am Anfang spricht vieles dafür, Bewegungen in den Füßen und Beinen zu beginnen, später wird geschieht das mehr und mehr aus dem Rumpf heraus (was dann oft als "Zentrum" und "DanTian" bezeichnet wird)
- 全身力一 Quan Shen Li Yi („ganzer Körper wie eine Kraft“)
- Körperschwerpunkt zwischen den Füßen („Korridor“) bzw. über einem Fuß
- Kraftvektoren / Winkel → „intelligenter“ Einsatz von Kraft
- „zerstreuen“ der Kraft, die auf mich wirkt (insb. weg von „Schwachstellen“)
- die „Schwachstellen“ beim Anderen dagegen suchen und dort ansetzen
- Einsatz des Körpergewichts (siehe z.B. Fa Li)
- Kraft in alle Richtungen (statt nur in eine Richtung) → keine/wenig „Kraftlücken“
- (Kraft schnell wechseln können → ist in Klammern, weil es selber nicht die Kraft erhöht, sondern mehr unter "geschickte Anwendung" fällt)
- "Luo Xuan" --> Rotationen/Spiralen (alles, im gesamten Körper, soll immer spiralförmig bewegt werden)
- aus der Körpermitte heraus bewegen (gehört aber vielleicht schon zu stil-spezifischer Körpermechanik)
Verschiedene Begriffe für "Kraft": Li, Jin/Jing und andere, die fälschlicherweise benutzt werden...
- 力 Lì – Kraft, Stärke, Fähigkeit
- 劲 (勁) Jìn/Jìng – Kraft, Stärke
- 气 (氣) Qì – lasse ich hier mal unübersetzt - weitere Klärung des Begriffs, siehe hier: Qi (Chi) - Energie/Lebensenergie?!
- 精 Jīng – Essenz ("Nieren-Essenz") → hier mit aufgelistet, weil "Jing" und "Jing" manchmal verwechselt werden... und da hilft es vielleicht, zu sehen, dass es zwei verschiedene "Jing" gibt: nämliche eben 劲 (勁) Jìn/Jìng und 精 Jīng
- "die Kraft kommt vom Yi"
- 意到力到 Yi Dao Li Dao – "wenn die Vorstellung (Yi) ankommt, dann kommt auch die Kraft (Li) an"
- „Yi führt, Qi folgt - und das Qi bewegt den Körper“ (im Yi Quan macht man sich u.a. deswegen auch praktisch gar keine Gedanken um „Qi“, da es immer mit am „Yi“ dran hängt)
- 整體合劲 Zheng Ti He Jin – "der ganze Körper ist wie eine Kraft" / 整體合一 Zheng Ti He Yi – "der ganze Körper ist wie Eins / wie ein Stück" usw.
- 四两拨千斤 Si Liang Bo Qian Jin – "Vier Unzen können tausend Pfund bewegen“ ("four ounces can move a thousand pounds")
- 四 Sì – vier
- 两(兩) Liǎng – hier: Unze (entspricht 50g = 0,05 kg)
- 拨 ( 撥 ) Bō – (mit der Hand, dem Fuß, einem Stock...) bewegen; vertreiben; verteilen
- 千(韆) Qiān – tausend; große Menge/Zahl/Anzahl von etw.
- 斤 Jīn – 10 oder 16 liang (两) bzw. 0,5 kg oder 1,102 Pfund
- "Vier Unzen können tausend Pfund bewegen“ ist eine Art Metapher dafür, dass man sich möglichst effizient bewegt, möglichst effizient Kraft einsetzt (Effizienz + „Intelligenz“ – letzteres im Sinne von „von meinen Stärken in die Schwächen des anderen gehen/attackieren“ usw.) → und wenn ich mich aus dem ganzen Körper heraus bewege, und jeder kleinste Bereich des Körpers mit zur Gesamtkraft beiträgt, dann habe ich vielleicht das Gefühl, relativ mühelos andere Leute bewegen zu können (insofern ist dieser Ausspruch eben eine Metapher für "effizienten Krafteinsatz" und dadurch "insgesamt relativ Kraft benutzen" → aber es bedeutet auch nicht, dass man GAR KEINE Kraft benutzt (es heißt ja nicht "Null Unzen können tausend Pfund bewegen“!)
- und mal angenommen, zwei Menschen wären genau gleich gut - wer hat dann vermutlich den Vorteil: derjenige der weniger Kraft erzeugen kann oder derjenige der mehr Kraft erzeugen kann? → wenn wir uns noch einig sind, dass wir bei "Kraft" von Biomechanik reden (und nicht von Zauberei/Magie/“Qi“), dann hat wohl derjenige den Vorteil, der am Ende mehr Kraft erzeugen kann, oder nicht?
- vermutlich hätte dann doch derjenige der "8 Unzen" Kraft benutzt mehr Kraft und einen Vorteil gegenüber jemandem der nur "4 Unzen" oder gar "0 Unzen" benutzt
- "Vier Unzen können tausend Pfund bewegen“ darf man nicht missverstehen als „möglichst wenig oder gar kein Krafteinsatz ist noch besser“, sondern dass man Kraft besser/effizienter einsetzen möchte – und eigentlich braucht man sogar „mehr Kraft“ (zumindest als Endresultat bzw. das, was am Ende auf jemand anderen wirkt), denn das ist ja das, was beim Anderen zu einer Wirkung führen soll (Schlag/Push/…)
- wenn man genauer darüber nachdenkt, ist es eigentlich eine sehr seltsame Idee, zu denken, wenn ich immer weniger Kraft erzeuge, dass es dann irgendwie einfacher/besser wäre/leichter gehen würde jemand anderen zu bewegen usw.
- Etwas anders ausgedrückt eine weitere Art "Vier Unzen können tausend Pfund bewegen“
- physikalisch ergibt "4 Unzen gegen 1000 Unzen" erst mal keinen Sinn (wenn ich ein Auto mit "1000 Unzen" anschieben müsste, würde das nie klappen, wenn ich nur "4 Unzen" an Kraft benutze...) → mit dieser Metapher ist also eher gemeint: auf deine 1000 Unzen lasse ich mich nicht ein - da wo du nur 3 Unzen "hast", reichen mir auch meine 4 Unzen (= ich gehe mit meinen "stärksten" Stellen gegen die schwächsten Stellen des Anderen) → ich kann also nicht wirklich 1000 Unzen mit nur 4 Unzen bewegen... auch wenn es so scheint, wenn ein scheinbar Schwächerer jemand Stärkeren "mühelos" bewegen kann… (das ist eigentlich das, was ich weiter oben mit effizientem und intelligentem Krafteinsatz meinte)
- und zusätzlich: die "1000 Unzen", die auf mich wirken, lasse ich auch nicht auf mich wirken, weil ich sie sozusagen "in den Boden neutralisiere" (durch mich durchlasse...) → das ist allerdings eine vereinfachte Sichtweise und letztlich sogar nicht zutreffend… (da sie nicht einfach komplett im Boden "verschwinden" können, sondern trotzdem weiter auf mich wirken)
- aber deswegen: wichtiger ist wahrscheinlich die Ergänzung: durch geschicktes "Reagieren" auf die auf mich wirkende Kraft des Anderen, ist eher die Idee, dass nie die vollen "1000 Unzen" des Anderen auf mich wirken können, d.h. dass der Andere nie "1000 Unzen" wirklich gegen mich aufbauen kann (z.B. weil ich ihn "ins Leere laufen lasse", dort ausweiche, wo er Kraft auf mich ausüben will usw.)
- und "Vier Unzen können tausend Pfund bewegen“ kann man auch noch so verstehen: wir haben 640-850 Skelettmuskeln – größtes „Organ“, 40-50% des Körpers – wenn jeder Muskel im Körper nur ein bisschen mit zur Gesamtkraft beiträgt, bleiben wir relativ entspannt... und "4 Unzen" in jedem Muskel addieren sich bei so einer großen Zahl an Muskeln… (und das hat eine andere Gesamtkraft als Resultat, wie wenn wir "1000 Unzen" nur isoliert in EINEM Muskel erzeugen wollen würden)
Nützliche Übersicht von Prof. Yu Yong-Nian aus dem Yi Quan
Beschrieben ist hier das Zusammenspiel der fünf Hauptkategorien (Li, Qi, Shen, Xing und Yi), die hier der Übersicht halber vorher kurz (alphabetisch) aufgelistet werden:
- 力 Lì – Kraft, Stärke, Fähigkeit → da das Yi Quan beide Begriff synonym verwendet, könnte hier auch stehen: 劲 (勁) Jìn – (spezifische) Kraft, Stärke
- 气(氣) Qì – Gas, Luft, Atem, Wetter; Gebaren, Verhalten … im Kontext der chinesischen Medizin: "Lebensenergie"
- 神 Shén – Geist, Seele, Gott, Göttlichkeit, Ausdruck; heilig → hier auch: der umfassende "Geist" (im Entspannungs-Kontext ein Wohlgefühl - im Kampfkunst-Kontext auch "Mut" u.a.)
- 形 Xíng – Form, Gestalt, Erscheinungsbild, Aussehen → hier auch: Körperhaltung bzw. Körperstruktur
- 意 Yì – Bedeutung, Idee, Gedanke, Wunsch, Begehren, Intention, Absicht, Erwartung, Vorstellung, ... (insgesamt steht Yì im Yiquan auch für "Denken", Vorstellungskraft und insgesamt den "Einsatz des Geistes")
- und zum Yì gehört auch: 心 Xīn – Herz, Gefühl; Geist; Absicht; Zentrum, Kern
- zusammen bilden Yi und Xin die rationalen und emotionalen Anteile des "Geistes"
1. 形 Xing ohne 意 Yi → leere Form
Xing ist die "Form/Gestalt", Yi die Vorstellungskraft. Andere Bezeichnungen für Xing sind auch schon mal Körperhaltung, "Struktur" oder "Rahmen" ("den Frame halten"). Wir brauchen eine gewisse "Form" - aber ohne Vorstellungen (Yi), bleibt diese Form leer.
2. 意 Yi ohne 形 Xing → keine Kraft
Die umgekehrte Situation zu 1. ist genauso falsch: haben wir nur Vorstellungen (Yi), aber keine Form (Xing), dann fehlt auch etwas - und wir können keine Kraft produzieren.
3. 意 Yi ohne 力 Li → kein richtiges Yi
Das ist für mich mit einer der interessantesten Punkte hier - aus drei Gründen:
- Prof. Yu spricht von Li (und nicht wie im Tai Ji Quan oft üblich von Jin). Das ist eine eigene Diskussion für sich und hier sei nur so viel gesagt: das Yi Quan benutzt Li und Jin synonym - oder anders gesagt: für Yi Quan gilt: Li = Jin. D.h. Prof. Yu hätte genauso gut hier von Jin sprechen können (statt Li). Man darf hier also keine falschen Schlüsse daraus ziehen, dass Jin nicht erwähnt ist in der Liste, sondern stattdessen Li benutzt wurde.
- Es gibt ja den berühmten Ausspruch Yong Yi Bu Yong Li (Keine Kraft benutzen, sondern die Vorstellungskraft "Yi"). Dieser wurde oft fehlinterpretiert, als dürfe man überhaupt keine Kraft benutzen. Insofern ist es sehr interessant und erfrischend, dass Prof. Yu uns daran erinnert, dass wir auch Li (/Jin) benutzen müssen und eben nicht nur Yi. - Chen Yu aus meinem Chen-Stil Tai Ji Quan sagt übrigens etwas ganz ähnliches (was im Grund als Ergänzung zum Ausspruch "Yong Yi Bu Yong Li" gemeint ist), und zwar: "Ye Yong Li!" (Auch Kraft benutzen!)
- Interessant ist auch noch, dass Prof. Yu sagt, dass ohne Li (/Jin) es kein richtiges Yi ist. Das ist insofern bemerkenswert, weil damit auch gemeint ist, dass sich Yi (Vorstellungskraft) im Körper "irgendwie anfühlen" muss - wir sagen auch, das Yi muss wie echt sein. D.h. Yi muss etwas konkret fühlbares sein - und nicht nur irgendwelche abstrakten Vorstellungsbilder, die man nicht fühlt...
4. 力 Li ohne 意 Yi → ungeschickt, grob
Das hier ist die umgekehrte Situation wie beim dritten Punkt - und das sollte vielleicht recht gut verständlich sein: nur Kraft benutzen (Li / Jin) ohne die Vorstellungskraft zu benutzen, ist ungeschickt oder grob. Man könnte vielleicht auch anlog zum ersten Punkt sagen, dass Li ohne Yi auch eine "leere Kraft" ist, der Inhalt, "Struktur", Verbindung und Dynamik fehlt, weil es "nur Krafteinsatz" ist ohne "Inneres".
5. 气 Qi ohne 力 Li → unrealistisch
Das hier ist ein sehr wichtiger Punkt, denn die Idee, dass Qi dasjenige ist, was z.B. andere Leute wegpusht o.ä. ist leider falsch und irreführend, wenn auch manche Richtungen mittlerweile behaupten, dass wäre die "einzig richtige innere Schule". Nein. Wir brauchen Li / Jin und alles andere ist unrealistisch - eine Illusion, der man hinterjagt. (mehr dazu an anderen Stellen)
6. 意 Yi ohne 神 Shen → keine Oberstufe
Shen ist der "Geist". Und bei aller Wichtigkeit des Yi (der Vorstellungskraft) dürfen wir in der Tat nicht vergessen, dass das Yi auch Shen anregen soll. Und ohne diese Shen-Anteile beim Training fehlt auch etwas. Shen muss auch mit dabei sein, um wirklich in die "Oberstufe" zu kommen.
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Stilübergreifende Kernthemen: 3. Körperschwerpunkt und -verlagerungen